Projekte
Ausstellungen
Publikationen & Pressetexte
Biographie
Kontakt
Links
  Marietta Laturnus
La Mer Gelée
Text von David Moscovici
 

Text von Marietta Laturnus

Eindeutige Mehrdeutigkeit


„Der Wert der Imagination ist, durch Intuition und Intensität tieferreichende Erkenntnisse zu gewinnen, als sie an der Oberfläche der Dinge zu liegen scheinen.“ (John Ruskin)


Die Vieldeutigkeit des Lebens steckt im Detail und liegt tiefer als es die Oberfläche offenbart. Die Dinge und Lebewesen in Arnika Mülls Werken erfassen die eindeutige Mehrdeutigkeit des Lebens. Indem die Künstlerin die Symbolhaftigkeit hinter der teilweise alltäglichen Fassade mit tradierten Bedeutungsebenen gekonnt mischt, entstehen neue Interpretationsansätze, die das Individuum und die Gesellschaft reflektieren. Gerade in ihren Zeichnungen und Wandmalereien eröffnen sich Bedeutungshorizonte, die erst bei tiefgründiger Betrachtung hinter die scheinbare Simplizität der klaren, filigranen Linienführung erkennbar werden. Skelette und Knochen als Zeichen der Vergänglichkeit, im Käfig gefangene Vögel, die die Grenzen der Freiheit aufzeigen, begegnen uns ebenso wie Fledermäuse, Rosen, Schwäne und andere im Laufe der Zeit zu Symbolen gewordene Elemente der Natur.

Der Werkkomplex mit dem programmatischen Titel „Surgite mortui venite ad Judicium“ (2009) thematisiert unter anderem die Geschichte des durch die Medien bekannt gewordenen schwarzen Trauerschwans, der sich in ein deutlich größeres Tretboot in Schwanengestalt verliebt hat. Die Zeichnung spiegelt die monogame Treue einer paradoxen, Unglück verheißenden Beziehung wieder. Das Tier folgt ergeben seinem künstlich reproduzierten Abbild. Im Fokus des Zyklus’ steht der Kreislauf des Lebens, versinnbildlicht durch die aus einem Knochen wachsenden Rosen. Selbst aus dem Anorganischem kann wieder Leben erwachsen. Reale und künstlich reproduzierte Natur, wie Plastikblumen oder Tretboote in Tiergestalt, treffen aufeinander; sie sind schwer von einander zu unterscheiden und erzeugen gerade durch diese Kombination eine spannende Reibung, die zu der Einsicht führt, dass im Grunde selbst im Unanimierten die Quintessenz des Lebens steckt.

Arnika Mülls jüngste Papierarbeiten „Lichtzwang“ (2010) präsentieren Status- und Machtsymbole wie Obelisk und Diamant sowie mystische Tiere, die aus einer unergründlichen Lichtquelle von innen Strahlen. Dem sehenden Blick der Kleinformate wird durch die auf dem Flohmarkt erworbenen Bilderrahmen, die von einer unbekannten Vergangenheit zeugen, Einhalt geboten. Die Anordnung der Bleistiftzeichnungen ist variabel, sodass die unterschiedlichen, phantomhaften Motive wie Spuren der Geschichte mit einander kollidieren und neue Sinnebenen erzeugen. Es sind einprägsame Bilder, deren intensive Strahlkraft über den Rahmen hinaus auf den Betrachter überspringt, ihn einnimmt und sich ins Gedächtnis einprägt. Die Bedeutung des Abgebildeten ist wandelbar, nicht nur durch die vielfältigen Hängungsvariationen, sondern vor allem durch die Tatsache, dass die Sinnbilder mit der Zeit in andere inhaltliche Zusammenhänge hineinwachsen können. Welchen Wert wird ein Diamant, der heutzutage auch ebenso künstlich aus der Asche eines Verstorbenen gefertigt werden kann, in naher Zukunft haben?

Wie schnell sich Rituale ändern können, zeigt die Künstlerin in ihrer Wandzeichnung „Auslaufmodel“ (2010). Nur noch der schwarze Schatten der Erinnerung an den Brauch des Hochzeitsschrankes, in dem das Brautpaar die Hochzeitsgeschenke verwahren und ehren kann, ist an der Wand zu sehen. Als wäre der Schrank, von der Stelle, an der er jahrzehntelang stand, weggerückt worden. Welche Vorstellung wir mit der stark abstrahierten, flächigen Darstellung assoziieren, hängt ganz davon ab, welche individuellen Erfahrungen auf unsere Wahrnehmung eingewirkt haben. Ebenso könnte man in der Zeichnung eine Orgel, einen Beichtstuhl oder einen Roboter erkennen. Unser Vorstellungsvermögen ist geprägt von der Zeit und den Umständen unseres Lebens.